Musical-Marathon in Ahrensburg: „Spaß und Horror“
Aufgeregtes Stimmengewirr erfüllt den Proberaum der Musicalschule Ahrensburg. Die Atmosphäre hat etwas von einem Klassentreffen. Nur sind es keine ehemaligen Schulkameraden, die sich hier am Sonntagabend um 23 Uhr versammelt haben, sondern Theaterprofis. Gut 40 Schauspieler, Autoren, Komponisten, Regisseure und Musiker, die an Erfolgsproduktionen wie „Phantom der Oper“ und „Westside Story“ mitgewirkt haben. Unter ihnen sind der Niederländer Harrie Poels und der Engländer Gavin Turnbull. Mehr als zehn Jahre standen sie als Pumbaa und Timon zusammen auf der Bühne – das Warzenschwein und das Erdmännchen in „König der Löwen“ im Hamburger Hafen. Sie machen zum ersten Mal bei den 24-Stunden-Musicals mit. „Wir wissen überhaupt nicht, was auf uns zukommt“, sagt Harrie und grinst. Beide Schauspieler sind ein bisschen nervös. „Normalerweise proben wir vor einer Premiere sechs Wochen jeden Tag von früh bis spät“, erklärt Gavin. Das ist hier ganz anders: Story, Text und Noten kennen sie bislang nicht – und genau das macht für beide den speziellen Reiz dieses Projekts aus. Sie wollen einfach mal etwas Neues probieren.
In 24 Stunden von der ersten Probe zur AufführungEtwa vierzig Schauspieler, Autoren, Komponisten, Regisseure und Musiker machen bei dem kreativen Abenteuer „24-Stunden-Musicals“ in Ahrensburg mit.
Eine Handpuppe, ein Gartenzwerg, ein Topf, eine Lederhose, ein Hockeyschläger und Holzschwerter – jeder Teilnehmer hat ein paar Requisiten mitgebracht. Diese sollen den Autoren als Inspiration dienen. Gavin steuert ein ägyptisches Gewand und ein paar Bananen bei, Harrie einen Werkzeugkasten und eine neongelbe Warnweste. Kurz nach Mitternacht werden die Darsteller hinaus komplimentiert. Sie und die Regisseure dürfen schlafen, während die Autoren und Komponisten in einer Nachtschicht vier kurze Musicals schreiben. Schon am nächsten Abend sollen diese uraufgeführt werden. Harrie und Gavin sind inzwischen etwas ruhiger geworden. „Jeder ist erleichtert, weil alle in der gleichen ungewohnten Situation sind und die gleichen Gefühle haben“, sagt der Niederländer.
Proben mit technischen Schwierigkeiten
Am Morgen ist die erste große Etappe geschafft: Die Autoren und Komponisten übergeben ihr Material an die musikalischen Leiter und Regisseure. Dann dürfen sich die Nachtschichtler ins Bett verabschieden und die vier Darstellerteams sind an der Reihe. Harrie und Gavin werden dieses Mal nicht zusammen auf der Bühne stehen – sie sind in unterschiedliche Gruppen eingeteilt worden. Im Team des Niederländers läuft es erstmal alles andere als rund das Keyboard funktioniert nicht. „Wir lernen den Gesangstext jetzt ohne Musik. Das birgt aber die Gefahr, dass man eine falsche Melodie in den Kopf bekommt“, erzählt Harrie in einer Pause. Aber der 57-Jährige und seine Kollegen lassen sich nicht unterkriegen.
Textänderungen in letzter Minute
In Gavins Gruppe gibt es keine technischen Probleme. In einem Klassenraum der Selma-Lagerlöf-Gemeinschaftsschule sitzt der musikalische Leiter Andreas Unsicker am Keyboard und setzt jeweils auf das Stichwort ein. Regisseurin Jacqui Dunnley-Wendt hat gerade im Flur mit zwei Schauspielerinnen eine Choreografie mit bunten Tüchern einstudiert, jetzt werden Gesang, Dialoge und Szenenabläufe geübt. Das Skript ist ein „Work in progress“. Das heisst, immer wieder spricht das Team über Textpassagen und streicht manche kurzerhand. Ihr 20-minütiges Stück handelt von einem Mann, der völlig unvorbereitet in die Fänge einer seltsamen, überdrehten Sekte gerät. Immer wenn Gavin gerade nicht dran ist, zieht er sich zurück und konzentriert sich auf seinen Text.
„Wir kämpfen alle“
Am frühen Nachmittag sitzt noch lange nicht alles, dabei ist schon Zeit für die Licht- , Stell- und Musikprobe auf der großen Bühne im Alfred-Rust-Festsaal. Die Band spielt so laut, dass der Gesang der vier Schauspieler kaum zu hören ist. Die Dialoge sind noch sehr holperig. „Das schwingt hier gerade ziemlich zwischen Spaß und Horror“, gibt Gavin zu. „Aber es ist schön zu sehen, dass wir alle zu kämpfen haben. Und wir sind doch schon weiter gekommen, als ich dachte“, freut sich der 39-Jährige. Und ein paar Stunden bleiben ja noch.
Ohne Generalprobe geht’s auch
Doch auch kleine Pausen müssen sein: Nach der einstündigen Bühnenprobe haben die Darsteller 30 Minuten Zeit, um Kaffee zu trinken und ein paar belegte Brötchen zu essen. Dann geht es wieder zurück in den Klassenraum. Eine Generalprobe vor der Premiere ist nicht vorgesehen. Harries Team probt auch im großen Saal mit Band, Ton- und Lichttechnik. Sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen: Er spielt einen Piratenkapitän, in dessen Mannschaft sich eine Frau schmuggelt.
Große Nervosität
Nur noch eine Stunde bis zum Auftritt. Gavin läuft durch das Foyer, immer noch sein Skript in den Händen. „Ich bin sehr aufgeregt“, gesteht der Engländer. Das geht auch Harrie so, der nur eine Minute später mit einem Kaffeebecher in der Hand vorbeigeht. „Das ist überhaupt nicht mit unserem normalen Job zu vergleichen. Ich muss unbedingt noch einmal meinen Text studieren“, sagt der ausgebildete Gesangspädagoge und verschwindet gleich wieder von der Bildfläche.
Standing Ovations trotz kleiner Hänger
Wenig später trudeln schon die ersten Zuschauer ein. Ganz ausverkauft ist die Vorstellung nicht, aber mit rund 300 Besuchern gut gefüllt. Dass sie genauso viel Spaß haben wie die Schauspieler auf der Bühne, zeigt sich schon beim ersten Stück. Texthänger und verlachte Gesangseinlagen – geschenkt. Kleine Fehler machen das Musical nicht kaputt, sondern im Gegenteil – sogar liebenswert. Schließlich überzeugen Musiker und Sänger mit Können und Leidenschaft. Das gilt auch für Harrie Poels und Gavin Turnbull, die als Pirat und unfreiwilliges Sektenmitglied glänzen. Der Niederländer und der Engländer haben Spickzettel mit auf die Bühne geschmuggelt, wie sie hinterher verraten.
Das Publikum belohnt das gesamte Team für 24 Stunden harte Arbeit mit tosendem Applaus und stehenden Ovationen. Nach der Vorstellung kommen Harrie und Gavin mit gelösten Gesichtern in den Zuschauerraum und schwärmen von einer tollen Erfahrung. „Das Publikum verzeiht bei so einem Projekt alles“, freut sich Gavin. Auch das macht den Charme dieses ungewöhnlichen Projekts aus.
Artikel von NDR.de